ZwischenLand

ANIA, Mittwoch, 14. März 1990


März, Frühling, ein heller Tag.
 Ich steige aus der überfüllten Straßenbahn, halte mein Gesicht in die Sonne. Die anderen strömen an mir vorbei, über die Ampel, mitten hinein in das Menschenmeer auf dem Karl-Marx-Platz.

Fahnen über Fahnen – Schwarz-Rot-Gold, soweit ich blicken kann. 

»Helmut! Helmut!«, schallt es über den Platz. Eine gute halbe Stunde wird es noch dauern, bis sich der Bundeskanzler auf der Bühne vor der Leipziger Oper zeigen wird.

Ich bleibe am Haltestellengeländer stehen, hole die Tüte aus der Tasche. Als ich die Fahne auseinanderfalte, kommt mir eine Staubwolke entgegen. Ich huste und lege mir das steife Tuch so um die Schultern, dass das Emblem auf meinem Rücken zu sehen ist. Ich fühle mich, als hätte ich mich ausgezogen, schaue mich nicht um, reihe mich in den Strom der Menschen ein.

An der Ampel ruft jemand hinter mir: »Hau ab, du rote Sau!«

Ich zwinge mich, nach vorn zu schauen, den Rücken gerade zu halten. Soweit ich sehen kann, ist meine Fahne die einzige mit Emblem. Aber alles ist möglich, oder? Vielleicht geben sich die anderen noch zu erkennen. Vielleicht braucht es nur jemanden, der den Anfang macht.

Die Menschen um mich herum halten Plastetüten, Kugelschreiber, Broschüren in den Händen, auch hier Schwarz- Rot-Gold und die Logos der CDU und der Allianz für Deutschland. Die Autos, aus denen all das verteilt wird, ragen wie Inseln aus dem Menschenmeer heraus, auf ihren Dächern stehen Kameraleute.

Bernd kann ich schon von weitem sehen, er sitzt mit dem Fotoapparat in den Händen auf einer der Figuren des Men- debrunnens und schaut in meine Richtung. Ich nehme die Fahne von den Schultern, schwenke sie. Er scheint mich zu erkennen, doch er lächelt nicht.

»Die gilt doch nicht mehr«, spricht mich eine ältere Frau an. »Ich hab eine Schere dabei, sollen wir’s zurechtschneiden?«

Ich sage nichts und lege mir die Fahne wieder um die Schultern.

Es ist unsere Familienfahne, angeschafft für den 1. Mai und den 7. Oktober, sie ist ausgeblichen, knitterig und min- destens so alt wie ich. Ein Erinnerungsstück. Ich trage ein Erinnerungsstück, das zum Symbol geworden ist, nicht für das, wofür es ursprünglich stand, sondern für das, was ich mir wünsche, und deshalb habe ich in Blockschrift über das Em- blem »Unser Land« geschrieben und drum herum: »Frei. Anders. Eigenständig.« Ich habe die Fahne aus der Vertiko- schublade im Dachbodenzimmer meiner Eltern mitgenommen, als ich zu Vaters Geburtstag dort war. Niemand wird sie vermissen, da bin ich sicher.

»Bist du von vorgestern oder was?«

Ein Typ mit Schnurrbart knufft mich in den Oberarm. Es tut weh, doch ich lasse mir nichts anmerken, und er drängt sich an mir vorbei, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Ich bin jetzt mittendrin, versuche, an der Litfaßsäule vorm Gewandhaus stehenzubleiben, habe keine Chance, treibe weiter bis zu einer Straßenlaterne vor der nächsten Ladenpassage. Ein paar Meter vor mir sehe ich Magnus’ Lockenmähne, seinen karierten Schal. Ich rufe, doch er dreht sich nicht um.

Ich lehne mich an das kühle Metall. Bernd habe ich aus den Augen verloren. Die Bühne vor der Oper ist so weit weg, dass ich den Bundeskanzler nur als Männchen sehen werde, harmlos, unangreifbar.

 

Vom Krochhochhaus her gongt es. Siebzehn Uhr. Eine Jubelwelle rollt auf uns zu. Die Leute um mich herum reißen die Arme hoch und johlen. Der Mast der Laterne im Rücken gibt mir Halt, ich pfeife aufzwei Fingern, es macht Spaß, und allein bin ich auch nicht mehr, denn von überall her kommen Pfiffe.

Da packt mich jemand am Arm und zieht mich zur Seite, aus der Menge heraus, unter das Dach der Ladenpassage. Bernd greift mit einer Kraft zu, die mich überrascht, ich reiße mich los, er packt mich wieder, mit diesem harten Gesicht, ich hasse es, wenn er mich so ansieht, und noch mehr, was er tut.

»Lass mich los!«

Die Fahne rutscht von meinen Schultern. Ich presse meine Fäuste gegen seine Brust. Er hält mir stand, greift meine Handgelenke und drückt sie nach unten. Seine Augen fun- keln mich durch die Brillengläser an, blau und kalt. »Bist du lebensmüde?«

»Ich kann selbst auf mich aufpassen!«

»Dann tu es!« Er lässt mich los und geht, verschwindet wieder zwischen den Menschen, und ich bleibe zurück, allein, und als ich die Fahne aufheben will, ist sie verschwunden.

Hinter mir Gelächter. Die zwei Männer habe ich schon in der Straßenbahn gesehen. Der eine hält meine Fahne an einem Zipfel hoch und brennt sie mit einem Feuerzeug an.

»Halt!«, schreie ich.

Die Typen schauen auf und lachen wieder, sie lachen mich aus, und ich sehe das Taschenmesser in der Hand des einen und gehe ein paar Schritte zurück, spüre hinter mir eine Hauswand, drücke mich dagegen, in den Schatten, meinen Herzschlag im Ohr.

»Brennt nicht mal, der Mist!«, ruft der Typ mit dem Feuerzeug.

Sein Kumpel sticht mit dem Messer in den Stoff hinein und zerfetzt das Emblem, schneidet es heraus, gibt es an den anderen weiter, der das Feuerzeug an den Fetzen hält, der aber auch nicht brennen will. Er lässt ihn fallen, tritt darauf herum.

»Erledigt«, ruft er und tritt noch einmal drauf.

Sein Kumpel lässt die Reste der Fahne vor mir auf den Bo- den fallen. Er sieht an mir vorbei und zieht die Nase hoch. Mit seinem faltigen Gesicht und den grauen Haaren könnte er mein Vater sein. Es stinkt verbrannt. Der Typ steckt sich eine Zigarette an, bringt die engen Jeans in Position und geht seinem Kumpel nach.

»Alles in Ordnung?«, fragt mich ein weißhaariger Mann, schaut auf die Fahnenreste und sagt: »Das hatten wir schon mal. Vor dem Krieg.«

(...)

 




BRIT, Sonnabend. 17. März 1990


»Wie bei Nele bitte«, sag ich zu Neles Schwester.


Sie nimmt meine Locken in die Hände, hält sie hoch, guckt mich im Spiegel an: »Bist du sicher, Brit?«


Ich nicke. Einmal und nochmal. Nele, die hinter uns auf dem Badewannenrand hockt, grinst, pustet ihren Pony aus der Stirn. Ein bisschen komisch ist mir schon. Hat ein ganzes Jahr gedauert, bis meine Haare so lang waren. Aber ich bin nicht mehr Brit-Püppi. Und das sollen alle sehen.

Neles Schwester nimmt das Handtuch von meinen Schultern. Legt den Kamm zur Seite. Meine Haare sind nass und glatt. Riechen gut. Nach Apfelsinenshampoo. Wahrscheinlich aus dem Shop. Oder gleich aus dem Westen.

Neles Schwester guckt mich nochmal im Spiegel an. Dann nimmt sie die Schere. Sie ist eine gute Friseuse. Das sagt nicht nur Nele. Viele aus dem Dorf gehen zu ihr. Sie arbeitet eigentlich in einem Salon in der Stadt. Privat frisiert sie nur abends und am Wochenende. Und nicht jeden. Für mich ist das perfekt. Muss die Haare ja öfter nachschneiden lassen. Wenn sie dann kurz sind.

Ich mach die Augen zu. Hör die Schere. Kein Ritsch- Ratsch. Eher ein leises Klick-Klack. Und ein Ziepen. Immer wieder. Aus dem Kofferradio quatscht es. DT-64. Ich kenn die Stimme des Moderators. Aber ich kann nicht verstehen, was er sagt, weil der Badlüfter rasselt. Warum bringen die am Samstagnachmittag keine Musik?


Jetzt hör ich den Föhn. Warme Luft auf meinem Kopf. Im Gesicht. 
Ich denk an Jonny. Ganz fest. Nochmal. Ganz fest. An den B-Club. Und wie er mich angucken wird. Und staunen. 
Ich trau mich und mach die Augen auf. Seh mein Gesicht im Spiegel. So nackt. So groß. So anders.


»Gar nicht schlecht«, sagt Neles Schwester.


»Cool, Britti!« 
Nele ist plötzlich hinter mir. Unsere beiden Gesichter, Wange an Wange, im Spiegel. 
Für den Anfang wirklich nicht schlecht, denk ich. Guck nicht nach unten, auf das Linoleum, wo meine Haare liegen. Setz mich gerade hin. Schau Neles Schwester an.

»Die Farbe auch wie bei Nele. Geht das?«


Neles Schwester guckt auf die Uhr.
 »Erst mal nur tönen? So zum Test? Kostet fünf Mark extra. Dann seht ihr aus wie Schwestern!«


»Passt doch!« Ich zwinkere in den Spiegel, Richtung Nele.


»Grufti-Schwestern!«, Neles Schwester grinst.


»Nun beschwer dich noch! Wir könnten auch ne Glatze bei Dir bestellen.«


»Noch was?«, Neles Schwester rührt eine schwarze Pampe in einem Töpfchen zusammen.
 Ich seh im Spiegel, wie Nele einen Schluck aus ihrer Colaflasche nimmt, am Lautstärkeknopf vom Radio dreht. Anne Clark. Mein Herz macht einen Sprung.

»Das würde Simon sicher cool finden, Britti.«

Ich hol meinen Arm unterm Frisierumhang vor, zeig Nele einen Vogel.

»Na, schräg drauf ist der schon.« Neles Schwester legt mir einen zweiten Umhang auf die Schultern. »So'n halber Nazi.«

»Nazi? Simon?«

»Also, sorry, ja? Ich hab den gestern mit ner Bomberjacke gesehen, da stand DEUTSCHLAND hinten drauf.«

»Bomberjacke! Das ist ne Lederjacke!«

Und bloß weil er für Deutschland ist, ist er noch lange kein Nazi. Das sag ich nicht, das denk ich nur. So für mich. Warum sagt die so was? Sie kennt ihn doch gar nicht.

Neles Schwester guckt mir im Spiegel wieder in die Augen. Zu lang. Dann schmiert sie mir mit einem Spatel die Pampe aufden Kopf. »Ganz schön heftig, das Schwarz, bei deinem Hauttyp.«

»Jonny findet's sicher schick.«


»Ach komm, Nele!«
 Zu spät. Mein Gesicht läuft rot an.


»Ist er süß?«, fragt Neles Schwester.


»Geht so.« Ich hör mein Herz in den Ohren. »Robert Smith ist cooler.« 

(...)


SUSE, Mittwoch, 21. März 1990



Was für ein Tag! Ich muss Ania anrufen! Aber das geht ja nicht. Also muss ich ihr schreiben! Unbedingt!

Neuigkeiten, meine Liebe, dicke, dicke Neuigkeiten!

Aber erst mal muss ich los. Gleich eins. Rüdiger hat Mittagspause. Und ich halte das nicht aus bis heute Abend. Ich muss es ihm sagen. Jetzt.

»Meine Chefin will, dass ich fest bei ihr einsteige. Sie kann sich das gut vorstellen, mit mir, als ihre rechte Hand. Und ich könnte den Blumenladen übernehmen, wenn sie in ein paar Jahren in Rente geht!«

Rüdiger legt den Schraubenschlüssel weg, wischt sich die Hände am Blaumann ab, gibt mir einen trockenen Kuss auf den Mund.

»Schön«, sagt er.

Sein Kollege kriecht hinter dem Rad eines Treckers hervor. »Dann müsst ihr das Bauen aber verschieben. Ausbildung kostet. Und dann noch die Meisterschule.«

»Ich schaff das schon!«

Die beiden gucken mich an, als hätte ich grüne Ohren. Oder mindestens drei Augen.

»Mach mal dein Ding, Mädel«, sagt Rüdigers Kollege dann. »Aber vergiss nicht, wenn ihr erst ein Haus habt und was Kleines, dann arbeitest du eh nicht mehr.«

Ich mache den Mund auf, aber die Worte wollen nicht raus. Stecken mir in der Kehle. Und Rüdiger? Schaut mich an. Schaut weg. Sagt nichts.

Ich drehe mich um, gehe.

Zeitlupengefühl. Die Tür der Landmaschinenwerkstatt fällt hinter mir zu. Ich renne die Straße runter. Der hat mich auflaufen lassen. Vor seinem Kumpel. Und ich? Lasse es mir auch noch gefallen. Sage nichts! Was bist du nur für ein Schaf, Suse!

Das Haus. Was Kleines. Na, schönen Dank. Seit Wochen gibt’s kein anderes Thema. Das Eigenheim, wie Rüdiger immer sagt, wenn er angeben will vor den anderen. Mit unseren Plänen, die seine sind.

Es ist unfassbar. Ich, Suse Wiepert, Facharbeiterin für Lederwaren aus einem kleinen Nest im Südharz, aus der tiefsten DDR, kriege hier, im allertiefsten Westen, in Freren im Emsland, die Chance meines Lebens. Floristin werden. Einen eigenen Laden haben.

Mein Traum. So nah. Und jetzt das.

(...)



ANIA, Mittwoch, 11. April 1990



Wiener Walzer Klänge auf unserem Hof. Es passt zu meiner Stimmung, morgen ist mein freier Tag, ich fühle mich so leicht wie schon ganz lange nicht mehr, hätte Lust, jetzt nach Wien zu fahren, einfach so, mit dem Bus oder dem Zug, oder gleich nach Paris. Boot fahren auf der Seine, im Café de Flore sitzen, die Mona Lisa im Louvre anschauen – träum weiter, Ania. Aber was gibt es Schöneres?

Und ich kann darauf hinleben, darauf hinsparen, und irgendwann wird es Wirklichkeit sein, irgendwann, ganz sicher.

Die Sonne steht schon tief. Ich tüte den Brief an Suse ein, trete ans Fenster. Sascha hat eine farbbekleckerte Grillschürze über seine schwarze Kluft gezogen, steht am Giebelfenster und spült Pinsel in einem Milchkrug aus. Er winkt zu mir herüber und wiegt sich in den Hüften.

»Ruhe!«, schreit Opa Wagner von nebenan.

Vom anderen Hof fliegt eine Bierflasche über die Mauer und zerschellt auf den Gehwegplatten des Hofes. Ich renne zum Hinterhaus, bereit, in Deckung zu gehen, wenn die nächste Flasche kommt.

»Du Schwuchtel«, ruft es von jenseits der Mauer. »Mucke aus, verdammt noch mal!«

Ich steige die Treppen rauf in den vierten Stock. Selbst hier oben riecht es wie im Keller. An den unverputzten Wänden breiten sich zwischen den nackten Rohren schwarze Schimmelflecken aus, Stromleitungen hängen herab.
 Saschas Wohnung hat keine Tür, ich klettere über einen Stapel von Holzrahmen, finde mich mitten im Raum wieder, entdecke den Kassettenrecorder auf einem Regalbrett über dem Herd, drücke die Stopp-Taste, weiche zurück vor den Bildern. Sie sind überall. Und sie zeigen die Geheimnisvolle.

Mitten im Zimmer steht die Staffelei. Das Bild darauf glänzt, als wären die Farben noch feucht. Die Frau liegt im Bett, in weiße Laken eingehüllt. Darunter ist sie nackt. Ihre Augen sind auf den Betrachter gerichtet, doch sie schauen ihn nicht an.

»Hallo Annuschka!«


Ich fahre zusammen.


»Gefällt dir die Musik nicht?«


»Mir schon.« Ich drehe mich um und sehe direkt in Saschas rotgeränderte Augen. »Aber von drüben gibt’s Ärger.«

Ich zeige zum Fenster. Hinter der Mauer steht ein Punk mit grünem Iro. Als er uns bemerkt, verschwindet er.

Sascha schiebt seine Unterlippe vor und zuckt mit den Schultern. Er hat die Schürze ausgezogen und die Arme über dem Bauch verschränkt.

»Wiener Walzer haben wir getanzt. Beim Opernball.«

 »Wer ist sie?«, höre ich mich fragen.


Er zieht seine Arme fester vorm Körper zusammen. »Das Bild ist sehr schön.«

»Nein.« Sein Gesicht wird hart. »Ich habe vergessen, wie sie ... « Sein Körper krümmt sich zusammen, er tritt gegen einen der Blecheimer auf den Dielen.

»Wie lange ist das her mit euch?«


Er zuckt mit den Schultern. »Wremja – sto eto?«

Ja, Zeit, was ist das?, denke ich.

Er nimmt ein Taschenmesser aus der Hosentasche und klappt es auf. Alles geht so schnell, zu schnell, ich kann nicht reagieren und nur zusehen, wie er sich mit der Klinge des Messers in den Zeigefinger schneidet und mit dem hervor- quellenden Blut seine Initialen an den rechten unteren Bildrand setzt.

A. S. I. 04/90. Der Punkt hinter dem A läuft auseinander wie eine Träne.

Sascha wickelt den Finger in ein kariertes Taschentuch, tritt einen Schritt zurück, scheint sich zu entspannen.

»Annuschka«, sagt er in meine Erstarrung hinein. »Alexander nicht da. Wolfgang nicht. Und du bei mir.«

( ...)